Tibetischer Buddhismus bzw. Vajrayana oder tantrischer Buddhismus fasziniert mich, vor allem wegen der mystischen Praktiken und tiefen Weisheit. Da unsere Reisen neben Hindu- und Yogakontext auch buddhistische Ziele und Themen haben, möchte ich beginnen, etwas mehr Hintergrund zum Buddhismus zu geben. Dieses Jahr geht es unter anderem zu den Lebensstationen des Buddhas, in die Region „klein Tibet“ und zu Pilgerorten in Sri Lanka.

Die Bilder sind alle von meinen Reisen, wenn Du Himalaya-Kultur selbst erleben möchtest, melde Dich gerne!  narada@purnam.de

Lumbini, Vajrayana
Junge Tibetische Mönche in Lumbini, dem Geburtsort des Buddha

Einführung in den Vajrayana-Buddhismus

Der Vajrayana-Buddhismus, auch bekannt als der „Diamantweg“ oder „Donnerkeilfahrzeug“, meist einfach tibetischer Buddhismus. Wobei man heute eher von „Transhimalaya-Buddhismus“ oder auch von „tantrischem Buddhismus“spricht, da die Ursprünge auch in Indien, Buthan und Nepal liegen. Sie stellt eine der drei Hauptströmungen des Buddhismus dar und fasziniert durch seine mystischen, symbolträchtigen und oft geheimnisvollen Praktiken.

Diese Schule des Buddhismus, die ihren Ursprung im Mahayana-Buddhismus hat, ist eine Mischung aus Buddhismus, Bön-Schamanismus und Tantra. Sie wird von ihren Anhängern als eine der tiefgründigsten und direktesten Wege zur Erleuchtung angesehen, da sie es Praktizierenden ermöglichen soll, den Zustand der Erleuchtung innerhalb eines einzigen Lebens zu erreichen.

Doch was macht Vajrayana so besonders, und welche Prinzipien, Rituale und Überzeugungen prägen diesen spirituellen Pfad?

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Zentrale Stupa in der Erdene Zuu Tempelanlage, Mongolei

Der Ursprung des Vajrayana-Buddhismus

Der Vajrayana-Buddhismus hat seine Wurzeln in Indien (genauer: in Kashmir und Ladakh) und entwickelte sich zwischen dem 4. und 8. Jahrhundert n.Chr. als Erweiterung und Vertiefung des Mahayana-Buddhismus mit tantrischen Elementen. „Vajrayana“ leitet sich aus den Sanskrit-Worten „Vajra“ (Diamant oder Donnerkeil) und „Yana“ (Fahrzeug) ab. Die Diamant-Metapher symbolisiert dabei Unzerstörbarkeit, Klarheit und Reinheit – Eigenschaften, die mit dem Zustand der Erleuchtung assoziiert werden.

Die Lehren des Vajrayana gelangten später nach Tibet, wo sie mit den dortigen schamanischen Bön-Traditionen verschmolzen. Dadurch entstand eine einzigartige Synthese aus tantrischen Ritualen, Meditationen und philosophischen Ansätzen, die als tibetischer Buddhismus bekannt ist. Als Begründer gilt Guru Rinpoche (Padmasambhava), der aus Kashmir stammte, in Ladakh praktizierte und dann nach Tibet ging.

Padmasambhava, tibetischer Buddhismus
Uralter Padmasambhava im Mustang Tal

Tantra im Tibetischen Buddhismus

Der Einfluss des Tantra auf das Vajrayana ist tiefgreifend und prägt viele Aspekte dieser buddhistischen Strömung. Das Vajrayana entstand ab dem 4. Jahrhundert in Indien und integrierte tantrische Elemente, die besonders ab dem 7. Jahrhundert in Kashmir und Umgebung populär wurden. Es wird oft als „Tantrapfad“ bezeichnet und gilt als schnelleres Fahrzeug zur Erleuchtung, da es die Transformation von Begierden und Wünschen betont, anstatt strenge Askese zu praktizieren.

Tantrische Praktiken im Vajrayana umfassen Visualisierungen von Gottheiten, Mandalas und rituelle Handlungen. Das Vajrayana unterteilt tantrische Praktiken in vier Hauptklassen: Kriya-Tantra (rituelle Praxis), Charya-Tantra (Verhaltens- und innere Praxis), Yoga-Tantra (integrierte Praxis) und Anuttarayoga-Tantra (fortgeschrittene innere Praxis).

Im Gegensatz zum frühen Buddhismus relativiert das Vajrayana moralische Konzepte und fokussiert sich auf die Transformation negativer Aspekte. Die Verwendung von Mantras führt zur alternativen Bezeichnung „Mantrayana“. Insgesamt hat der Einfluss des Tantra das Vajrayana zu einer einzigartigen Form des Buddhismus gemacht, die sich durch ihre transformativen Praktiken und esoterischen Lehren von anderen buddhistischen Schulen unterscheidet.

Einsame Klöster
Kye: Einsames Vajrayana Kloster im Himalaya

Die Kernprinzipien des Vajrayana-Buddhismus

Im Vajrayana-Buddhismus stehen zwei fundamentale Überzeugungen im Mittelpunkt: die Einsicht in die Natur des Geistes und die transformative Kraft von Ritualen und Meditationen. Anders als andere buddhistische Schulen, die schrittweise Wege zur Erleuchtung lehren, sieht Vajrayana die Möglichkeit vor, die erleuchtete Natur sofort zu erkennen.

  1. Die Natur des Geistes: Vajrayana lehrt, dass jeder Mensch bereits die Buddha-Natur in sich trägt. Diese erleuchtete Essenz ist jedoch durch die Illusionen des Egos und weltliche Verhaftungen verdeckt. Durch spezielle Praktiken kann der Praktizierende diese Buddha-Natur erkennen und manifestieren.
  2. Transformation durch Tantra: Vajrayana verwendet tantrische Methoden, um alltägliche Erfahrungen in spirituelle Erleuchtung umzuwandeln. Tantra im buddhistischen Kontext bedeutet nicht nur Rituale, sondern auch eine tiefgreifende Transformation von Geist und Körper. Negative Emotionen wie Wut oder Anhaftung werden nicht unterdrückt, sondern in positive Energien wie Mitgefühl und Weisheit umgewandelt.
  3. Die Rolle des Gurus: Eine Besonderheit des Vajrayana ist die zentrale Rolle des spirituellen Lehrers oder Gurus. Der Guru wird als eine Verkörperung des Buddhas betrachtet, der den Schüler durch persönliche Unterweisungen und Übertragungen in die tiefsten Geheimnisse der Lehre einweiht. Vertrauen in den Guru ist daher essenziell für den Fortschritt auf diesem Weg.
IMG 20190518 093205 Tibetischer Buddhismus
Boudhanath: Zentrum für Vajrayana Buddhismus in Kathmandu

Rituale und Praktiken

Der Tibetische Buddhismus zeichnet sich durch seine reiche Symbolik und seine vielfältigen Rituale aus, die oft für Außenstehende komplex und mystisch erscheinen. Zu den bekanntesten Praktiken gehören:

  • Mantra-Rezitation: Mantras, heilige Silben oder Verse, werden wiederholt rezitiert, um den Geist zu fokussieren und eine Verbindung zu bestimmten Buddhas oder Bodhisattvas herzustellen. Das bekannteste Mantra ist „Om Mani Padme Hum“, welches dem Buddha des Mitgefühls Avalokiteshvara bzw. Chenresig gewidmet ist.
  • Mandalas: Mandalas sind komplexe, geometrische Diagramme, die den Kosmos oder das Universum symbolisieren. Sie dienen als visuelle Meditationshilfe und werden oft in Sandkunstwerken dargestellt, die nach Fertigstellung zeremoniell zerstört werden, um die Vergänglichkeit des Lebens zu symbolisieren.
  • Meditation auf Yidams: Yidams sind Meditationsgottheiten, die bestimmte Aspekte des Geistes repräsentieren. Der Praktizierende visualisiert den Yidam und identifiziert sich mit ihm, um die erleuchteten Eigenschaften des Yidams zu integrieren.
  • Mudras und Tantrische Rituale: Mudras, symbolische Handgesten, werden in Kombination mit Mantras und Visualisierungen verwendet, um die spirituelle Energie zu lenken. Rituale wie Initiationen oder Pujas (Verehrungszeremonien) helfen dabei, die Verbindung zur spirituellen Welt zu stärken.
tibetischer Buddhismus
Guru Rinpoche (Padmasambhava) im Kloster Thiksey, Ladakh
Ethik im tibetischen Buddhismus

Obwohl Vajrayana oft für seine esoterischen Praktiken bekannt ist, basiert es auf einer strengen ethischen Grundlage. Die zehn Tugenden des Buddhismus bilden die klare Basis. Darüber hinaus wird von Praktizierenden erwartet, dass sie Mitgefühl und Weisheit kultivieren, nicht nur für sich selbst, sondern auch zum Wohle aller fühlenden Wesen. Dieses altruistische Ideal wird als Bodhicitta bezeichnet und ist das Herzstück des Vajrayana-Weges.

Bodhibaum, Bodhgaya
Tibetische Mönche am Bodhibaum

Meister*innen prägten die Geschichte des Vajrayana

Das frühe Vajrayana wurde maßgeblich von einer Reihe bedeutender indischer und tibetischer Meister geprägt. Zu den einflussreichsten zählt Padmasambhava, auch bekannt als Guru Rinpoche, der im 8. Jahrhundert den Vajrayana-Buddhismus nach Tibet brachte und als zweiter Buddha verehrt wird. Seine Gefährtinnen Yeshe Tsogyal und Mandarava spielten ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Lehren.

Der große indische Gelehrte Atisha (980-1054) systematisierte den tibetischen Buddhismus und gründete die Kadampa-Schule. Marpa der Übersetzer (1012-1097) brachte viele tantrische Lehren von Indien nach Tibet und wurde zum Lehrer des berühmten Yogi Milarepa. Die indischen Mahasiddhas Tilopa und Naropa gelten als Urväter der Kagyü-Linie des tibetischen Buddhismus.

Unter den weiblichen Meisterinnen ragen neben Yeshe Tsogyal auch Niguma, die Schwester oder Gefährtin Naropas, sowie Machig Labdrön hervor, die die Chöd-Praxis entwickelte. Der große tibetische Gelehrte Longchenpa (1308-1364) systematisierte die Dzogchen-Lehren der Nyingma-Schule. Diese Meister und Meisterinnen legten durch ihre Lehren, Übersetzungen und spirituellen Errungenschaften das Fundament für die verschiedenen Schulen des Tibetischen Buddhismus, wie wir sie heute kennen.

tibetische Gebetsmühlen
Gebetsmühlen im Himalaya mit dem Mantra "Om Mani Padme Hum"

Die Schulen des Tibetischen Buddhismus

  • Die Nyingma-Schule, die älteste der vier tibetischen Vajrayana-Schulen, geht direkt auf Padmasambhava zurück und wird als „Schule der Alten“ bezeichnet. Ihre Hauptlehre ist Dzogchen, die „Große Vollkommenheit“, welche die inhärente Reinheit und Erleuchtungsnatur des Geistes betont. Nyingma-Praktiken umfassen komplexe Tantra-Systeme und legen großen Wert auf direkte Übertragung spiritueller Erfahrungen zwischen Lehrer und Schüler.
  • Die Kagyü-Schule, gegründet durch Marpa im 11. Jahrhundert, wird als „Schule der mündlichen Überlieferung“ bezeichnet. Sie ist besonders bekannt durch ihren berühmten Yogi Milarepa und konzentriert sich auf die Mahamudra-Lehren, die darauf abzielen, die wahre Natur des Geistes zu erkennen. Meditation und direkte spirituelle Erfahrung stehen im Zentrum ihrer Praxis.
  • Die Sakya-Schule, benannt nach ihrem Hauptkloster in Südtibet, entwickelte sich im 11. Jahrhundert und hatte besonders im 13. und 14. Jahrhundert großen politischen und spirituellen Einfluss. Sie zeichnet sich durch eine systematische Herangehensweise an tantrische Lehren aus und integriert philosophische Tiefe mit praktischen Meditationstechniken.
  • Die Gelug-Schule, die jüngste der vier Hauptschulen, wurde von Tsongkhapa im 15. Jahrhundert gegründet. Sie betont rationale Analyse, monastische Disziplin und logische Studien. Die Gelug-Tradition ist für ihre umfassenden philosophischen Studien und strengen monastischen Praktiken bekannt und wurde später zur dominierenden politischen Kraft in Tibet, aus der die Dalai Lama-Tradition hervorging.
Bön als 5. Schule
  • Die Bön-Religion ist die ursprüngliche spirituelle Tradition Tibets, die vor der Einführung des Buddhismus im 8. Jahrhundert vorherrschte. Begründet wurde sie von Tonpa Shenrab Miwo, dessen Lehren sich von Westtibet aus verbreiteten. Bön umfasst animistische und schamanistische Elemente, mit einem starken Fokus auf Rituale, insbesondere Totenrituale. Nach der Etablierung des Buddhismus als Staatsreligion wurde Bön zunächst verfolgt, entwickelte sich aber parallel zum Buddhismus weiter. Beide Traditionen beeinflussten sich gegenseitig, was zu Ähnlichkeiten in Praktiken und Philosophie führte. Die Bön-Tradition überlebte in abgelegenen Regionen Tibets und angrenzenden Gebieten. 1977 erkannte der Dalai Lama Bön offiziell als fünfte spirituelle Schule des tibetischen Buddhismus an. Heute teilt Bön viele Aspekte mit dem tibetischen Buddhismus, einschließlich Meditationstechniken und philosophischer Konzepte wie Dzogchen, behält aber auch eigene Gottheiten, Rituale und heilige Texte bei.
Bodhibaum
Viele tibetische Mönche praktizieren am Bodhibaum, wo der Buddha die Erleuchtung fand

Herausforderungen und Missverständnisse

Der Vajrayana-Buddhismus hat aufgrund seiner esoterischen Natur oft mit Missverständnissen zu kämpfen. Einige Kritiker werfen ihm vor, dogmatisch oder exklusiv zu sein, da viele seiner Lehren nur eingeweihten Schülern zugänglich sind. Auch die Komplexität der tantrischen Rituale kann für Außenstehende abschreckend wirken. Dennoch ist der Tibetische-Buddhismus bestrebt, seine Lehren an moderne Kontexte anzupassen, ohne seine Essenz zu verlieren.

Warum Vajrayana heute relevant ist

In einer Welt, die zunehmend von Stress, Verwirrung und Sinnsuche geprägt ist, bietet der Vajrayana-Buddhismus einen klaren Weg zur inneren Transformation. Seine Betonung auf die unmittelbare Erkenntnis der Buddha-Natur spricht Menschen an, die bereit sind, sich tief auf die eigene spirituelle Entwicklung einzulassen. Zudem sind die Prinzipien von Mitgefühl, Weisheit und Altruismus universell und zeitlos.

Tibetischer Buddhismus erinnert uns daran, dass der Weg zur Erleuchtung nicht nur in fernen Klöstern oder komplizierten Ritualen zu finden ist, sondern im eigenen Geist. Indem wir die Buddha-Natur in uns selbst erkennen und kultivieren, können wir nicht nur uns selbst transformieren, sondern auch einen positiven Einfluss auf die Welt um uns herum ausüben.

Vajrayana Kloster
Uraltes Vajrayana Kloster in Phuktar, Zanskar, Ladakh, Indien

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